Künstlerisches Denken lehren?
Bevor ich versuchen, Merkmale künstlerischen Denkens zu skizzieren, möchte ich mich dem „Wozu?“ widmen. In meinem Beruf als Kunstlehrer:in und meiner Passion als Autorin begegnet mir die Frage, wozu der Kunstunterricht gut ist, beinahe täglich. Soll man heute echt noch Unterrichtszeit einplanen, um Zeichnen zu lernen? In einer Zeit, in der jedes Handy unfassbar schnell Fotos und Filme macht und Künstliche Intelligenz Gemälde diverser Stilrichtungen produziert?
Meine Antwort lautet: Natürlich, unbedingt! Und zwar, um den einseitig rationalen, von Schulen omnipräsent eingeübten Denkpfaden (die bisweilen auch zur Verkrustungen führen) eine fluide, bewegliche und subjektiv bedeutsame Denkform an die Seite zu stellen.
Ich stelle meinen Ausführungen folgende Thesen voran.
Künstlerisches Denken sollte man lernen:
…, weil man die Erfahrung machen kann, dass Bedeutungsvielfalt ein Reichtum ist.
…, weil man lernen kann, mit offenen Fragen umzugehen.
…, weil man lernt, seine eigenen Darstellungswege zu gehen und sich ein eigenes Bild von der Sache (nicht etwa dem Stoff) zu machen.
…, weil man zwischen Makroaufnahmen und Weitwinkel, Fremdbild und Selbstbild, Zentralperspektive und Allansichtigkeit Perspektivenwechsel einüben kann.
…, weil man üben kann, sich empathisch in andere und deren Weltbild einzudenken.
…, weil man lernt, mit Individualität – der Eigenen und der von anderen – umzugehen (das ist meine Sichtweise, das ist deine Sichtweise. Das ist mein Standpunkt, das ist dein Standpunkt)
…, weil man Weltenvielfalt lernen kann.
…, weil man Diversität als Reichtum erlebt.
…weil man sich als fähig erleben kann, selbst mitzugestalten und nicht nur passiv von anderen gestaltet wird.
…, weil man sich mit seiner Besonderheit einbringen kann …
Kunst: Es geht nicht um Verhübschung des Alltäglichen!
Entgegen einer weitverbreiteten Meinung geht es Kunst keineswegs (nur) darum, Welt abzubilden oder zu verschönern. Kunst ist ein äußerst vielfältiges Medium zur Welterkenntnis, zur Verortung in Welt und Gesellschaft und zur Arbeit an der eigenen Identität. Künstlerinnen und Künstler arbeiten daran, Welt zu verstehen oder mit dem, was sich dem Verstehen entzieht, umzugehen. Sie verfassen Weltbilder und Visionen, wie Welt sein könnte und vertreten dabei subjektive Positionen. Neben die durchrationalisierte, vielfach von Regeln, Gesetzen und Normen bestimmte Gegenwart stellt Kunst einen Freiheitsraum der individuellen Auseinandersetzung. Dieses Feld der unendlichen möglichen Sichtweisen reicht von extremen Positionen, von existenzieller Tragweite bis hin zu sehr zarten, versponnenen individuellen Mythologien. Die Ausdrucksformen sind dabei so divers wie die Akteur:innen und deren Themen. Neben die klassischen Gattungen – Zeichnung, Malerei, Druckgrafik, Plastik etc. – ist längst ein ganzer Strauß an Methoden getreten, der die Betrachter:innen stark in das Kunstwerk einbindet. Wir werden in neue Räume versetzt und mit gänzlich unbekannten Körper-Raum-Erfahrungen konfrontiert, wenn es um Rauminstallation geht; Performance-Kunst spiegelt sich in uns hinein und packt uns (bisweilen ganz buchstäblich) mit Haut und Haar und Konzeptkunstwerken gestalten Realitäten einfach mal um und zeigen, dass es für vieles Alternativen gibt.
Das Denken, das im Hintergrund abläuft – eben das künstlerische Denken – unterscheidet sich von anderen Denkformen, denn es ist per se auf ein Anders-Denken ausgerichtet. Um zu erklären, was ich mit Anders-Denken meine, versuche ich einige fragmentarische Gedanken zu formulieren:
Künstlerisches Denken ist auf die permanente Überschreitung gängiger Vorstellungen, Regeln und Grenzen ausgelegt. Der kreative Teil des künstlerischen Denkens beginnt dort, wo das Vorhandene (das kann eine Art und Weise zu Zeichnen sein, ein Motiv, eine Idee, ein Konzept ….)so lange gedreht und gewendet wird, bis etwas Neues entsteht. Unterstellt man Künstler:innen, sie seien verrückt, hängt das oft damit zusammen, dass diese ganz real die normale Vorstellung ver-rücken, um zu neuen Einsichten zu kommen.
Künstlerisches Denken ist ein Denken im Entwurf. Künstlerische Prozesse zielen nicht auf die eine unumstößliche, universale Geltung beanspruchende Wahrheit. Es handelt sich vielmehr um einen Denk- und Handlungsmodus, der bereit ist, die (Zwischen-) Ergebnisse immer wieder infrage zu stellen: experimentieren, ausprobieren, vergleichen, imitieren und verändern, ent- und verwerfen, bestätigen und hinterfragen, …
Künstlerisches Denken geht spielend mit Vieldeutigkeit um. Rätselcharakter und Vieldeutigkeit gehören zum Wesen von Kunstwerken. Während andere Sprachformen auf Eindeutigkeit zielen (das Stop-Schild sagt: anhalten!), bieten Kunstwerke viele Deutungsaspekte gleichzeitig an. Künstlerisches Denken agiert permanent mit Vagheit, Ambiguität und Komplexität und ist gar nicht auf einfache Festlegungen aus.
Künstlerisches Denken ist sinnliches Denken. Form und Idee finden im Kunstwerk zu einer besonderen Verbindung, denn durch die besondere, von Künstler:innen gefundene Form entsteht die Idee erst und kann vermittelt werden. Wenn es um Form geht, sind die Sinne gefragt. Künstlerisches Denken beruht also auf besonderen Arten des Wahrnehmens und auf einem höchst sensiblen Umgang mit Form und Material.
Am künstlerischen Denken sind Emotionen und Gefühle beteiligt: während andere Erkenntnisformen versuchen, in einem engen Sinn so rational wie möglich zu sein ( und daher emotionale Einflüsse auszuschließen versuchen), nutzt künstlerisches Denken Gefühl und Emotion. Intuition, Befindlichkeit, persönliche Präferenz spielen hier eine wesentliche Rolle.
Diese Art des Anders-Denkens kann auch (zum Beispiel) im Kunstunterricht gelehrt werden. Dabei handelt es sich allerdings um ein durchaus aufwendiges Unterfangen, denn Schule (und unsere Gesellschaft im Allgemeinen) ist per se stark auf gegenteilige Denkformen ausgerichtet. Die wenigen Ressourcen, die uns Kunstpädagog:innen zur Verfügung stehen, gilt es sehr geschickt zu nutzen, denn die Hindernisse sind vielfältig. Didaktische Rahmungen können so gestaltet werden, dass Lernende allmählich in diese unkonventionelle Form des Denkens hineinfinden. Dazu brauchen wir auch nicht unbedingt die ganz besonderen Leuchtturm-Projekte mit tollen Ergebnissen. Ganz konventionelle bildnerische Techniken können in einer Verbindung von Lehrgangs- und Projektunterricht so angelegt werden, das jede und jeder Lernende die Chance hat, zu erleben was es bedeutet, sich ein eigenes Bild der Welt zu machen.
Einige Eckpunkte für diese Didaktik (an anderer Stelle sehr ausführlich ausgearbeitet) sind:
- Prozesshaftes Arbeiten initiieren.
- Individuelle Entwicklungen zulassen und fördernd begleiten
- zur individuellen Bildsprache befähigen und ermutigen
- Widerstände des Materials konstruktiv nutzen
- Kunstfertigkeit zur Basis machen
- Kunstunterricht als Raum offener Fragen betrachten