Bin ich schön?

Beim Aufräumen der Archive meines Vaters fiel mir diese kleine Tonfigur in die Hände. Kaum 25 Zentimeter hoch zog mich ihre eigentümliche Präsenz in ihren Bann und motivierte mich zu einigen Gedanken.

Bin ich schön
Bin ich schön

Es handelt sich, klar erkennbar um eine weiblich Aktdarstellung. Trotz eines durchaus voluminösen Körpers steht sie auf zwei äußerst zarten Füßen. Oder schwebt sie? Der Körper ist senkrecht aufgerichtet, wobei rechte Schulter und Hüfte leicht gedreht sind, sodass wir ihr nicht ganz frontal gegenüberstehen. Diese vorsichtig abwehrende Haltung wird durch die Modellierung einer markanten, vertikalen Fläche zwischen Schulter und Bauch unterstützt. Die weibliche Gestalt blickt über eben jene Schulter und hat den Kopf dabei sicher wenngleich keineswegs überheblich wirkend erhoben. (…)

Einem gängigen Schönheitsideal entspricht diese Körperdarstellung nicht; zu füllig sind die Volumina, zu disharmonisch die Kurven, zu brüchig die Oberfläche. Aber zart wirkt sie allemal.

Es ist vielleicht eine Errungenschaft der Kunst der Moderne, dass wir heute ein vielschichtiges Bild von Schönheit haben. Jenseits allglatter Plastikschönheiten digital geglitterter Topmodels, die von immer gleichen Zeitschriften-Cover herab an uns vorbei blicken, gibt es längst Vorstellungen „des Schönen“ die auch das Imperfekte, von vermeintlichen Normen abweichende umfassen. In Galerien und Kunstmuseen hat sich eine Kultur der Körperdarstellung etabliert, die den bis zur Unmenschlichkeit idealisierten Bildern der Hochglanzjournale diametral gegenüber steht. Hier werden im übertragenen Sinn sowie ganz direkt Versehrtheit und Verletzlichkeit auf den Sockel gestellt. Erst der Körper in seiner individuellen Besonderheit, Spuren sensibler, nicht selten auch brüchiger Identität aufweisend, biografisch gezeichnet, vermag hier den Ausdruck des Menschlichen zu transportieren. Das Echte wurde zum Schönen.

Indem man in der Kunst das ästhetische Potenzial der Darstellung jenseits von Idealbildern erkannte,  demontierte man nach und nach jenen blutleeren, weil wirklichkeitsfremden Schönheitskult, der sich etwa in klassizistischen Darstellungen zeigt. Durch die Hinwendung zu einer von Affekten und Emotionen geprägten Leiblichkeit öffnete sich ein Feld der neuen Schönheit, einer „zerbrochenen Schönheit, die jedoch nicht weniger schön ist, sondern sogar noch schöner sein kann“, so Tobin Siebers. (https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/467463)

Diese kleine plastische Arbeit entstand in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Mein Vater war dort viele Jahre Kunstlehrer. Betrachte ich die Aktdarstellung der mir unbekannten, jungen Frau wird mir bewusst: Anmut und Schönheit menschlicher Würde zeigen sich nicht in einer (Körper)oberfläche, die Standards überdurchschnittlich gut erfüllt. Jene eigene und vielleicht viel tragfähigere Schönheit wird dort deutlich, wo Nähe entsteht und sich ein Körper in seiner von Normativität abweichenden Lebendigkeit präsentiert.

Ich nehme an, dass Körperdarstellungen wie jener Akt helfen können, in vielerlei Hinsicht Distanzen zu verringern, wenn wir uns auf die je eigene Anmut einlassen. Verabschieden wir uns vom oberflächlichen Ideal des makellosen Körpers, wird der Blick für den, Persönlichkeit tragenden Leib frei. Für uns selbst kann das bedeuten, dass die Distanz zwischen unserem eigenen Körper und vermeintlichen Idealbildern, denen wir hinterherhetzen schrumpft. Für unser Miteinander bedeutet es vielleicht auch einen neue Nähe: du bist schön! Ich bin schön!

2 Responses

  1. Vielen Dank für´s Teilhabenlassen an deinem Text über die besondere Frauendarstellung aus dem Archiv deines Vaters!
    Dass die Füße der Figur so klein sind, ist bemerkenswert. Eigentlich empfinde ich sogar ihren Kopf – zumindest auf deiner Abbildung – als klein. Vielleicht zeigt die Figur weniger eine Seherfahrung als vielmehr eine leibliche Erfahrung? Der Bauchbereich der Figur hat eine große Präsenz, fast so, als wäre er das Zentrum der dargestellten Person. Die Körper-„Enden“ hingegen wirken auf mich weniger bedeutsam, zurückgenommener. Wären Kopf oder Antlitz relevant gewesen, hätte die Frau eine andere Proportion erhalten. In meiner Betrachtung der Figur schieben sich immer mehr frühgeschichtlichen Venus-Figurinen. Geht dir das auch so?
    Wenn die Figur tatsächlich mit einer leiblichen Erfahrung verbunden ist, wäre es schön, sie in den Händen zu halten. Gibt es die Figur noch oder gibt es nur ihre Reproduktion?

    • Vielen Dank, lieber Tobias. Ja, die Figur steht/hängt/fliegt mir gegenüber an meinem Schreibtisch. Ich teile deine Meinung, dass es um eine leibliche Erfahrung geht. An die Venus-Figurinen erinnert sie mich auch. Sie hat so etwas urbildhaftes, … Wenn man sie anlangt, ist das verblüffend, denn sie ist aufgrund des Materials ganz hart, obwohl sie soviel Weiches hat.

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