Laudatio zur Ausstellung „Free your mind“ von Tatjana Lee

Zur Ausstellungseröffnung „Free Your Mind“ im Haus der Begegnung Pfaffenhofen hier eine Aufnahme meiner Laudatio für Tatjana Lee (Künstler Webseite)

Laudatio zur Ausstellung "Free your mind" von Tatjana Lee
Laudatio zur Ausstellung "Free your mind" von Tatjana Lee

Das Skript zum Nachlesen:

Liebe Gäste, liebe Familie Kretzschmar, liebe Tatjana,

es ist mir eine besondere Freude, diese Ausstellung eröffnen zu dürfen. Die Kreativität der Kretschmar-Kinder durfte ich in den letzten Jahren schon erleben, nun ergab sich die Chance deine besondere Sicht der Dinge kennen zu lernen, liebe Tatjana …

Sicht der Dinge ist ja eigentlich nicht ganz richtig… es geht ja eher um Blicke auf Menschen, um Blicke von Menschen, um Blickwechsel und vor allem geht es wohl um das, was unter der Oberfläche der schnellen Blickwechsel passiert…

Wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen, dann ruft das Antlitz des Anderen eine Sprache vor der Sprache hervor, vermutet der Philosoph Emanuel Levinas.

Um diese Sprache, scheint es bei deinen Bildern zu gehen.

Ich möchte diesem Sprechen ein Stück weit folgen ohne jedoch den ohnehin vergeblichen Versuch zu unternehmen, Bilder mit Worten erklären zu wollen oder gar auf den Begriff zu bringen.

Ich umrunde diese Bilder also mit einigen aus der Kunstgeschichte inspirierten Gedankenpfaden und im Idealfall öffnen meine Ausführungen für Sie, liebe Gäste unterschiedliche Blickwinkel auf das Phänomen dieser Bilder …

Während wir Darstellungen des menschlichen Körpers bereits aus der Steinzeit kennen, tauchen Porträts vom Menschen – also Darstellungen der Gesichtszüge – erst viel später auf (die ersten ca. 1500 v. Chr. Allerdings noch stark stilisiert und idealisiert)

  • Es muss einen Grund geben, weshalb man sich zwar an die Darstellung des menschlichen Körpers nicht aber an die Darstellung des Gesichts heranwagte …
  • Anthropologen und Kunstwissenschaftler vermuten:
  • Zum einen war das Individuum nicht bildwürdig
  • Zum anderen dürfen wir von etwas ausgehen, dass man wohl am besten als magisches Denken beschreiben kann. Man ging wohl von einer äußerst engen energetischen Brücke zwischen Abbild und Abgebildetem aus. > hätte man das Gesicht des Menschen, das, worin sich unsere Individualität am deutlichsten zeigt, etwa auf die steinzeitliche Felswand gemalt, dann wäre ein Stück dieses Menschen auch in der Felswand real vorhanden, so die magische Denkweise.
  • Heute: Voodoo- Puppe, Fan Kult…

Wenn wir es also mit dem menschlichen Antlitz zu tun bekommen, dann bekommen wir es per se mit einem sehr besonderen Bereich der Bilderwelt zu tun! Wir werden noch sehen, was das für diese Bilder hier bedeutet …

Individuelle Gesichtszüge begegnen uns erstmals zum Bsp. Bei den Mumienporträts aus Fajum, die ca. 100 v. Chr. Entstanden.

Diese kleinen Abbildungen, die auf mumifizierten Leichnamen befestigt waren, zeigen die Gesichtszüge der Verstorbenen in erstaunlicher Genauigkeit. Man malte das Antlitz mit Farbpigmenten in Wachs, um das Aussehen fest- und die Erinnerung wach zu halten. Vor allem aber ging es bei diesen feinen Malereien darum, die Identität des Verstorbenen zu konservieren, damit sie auf der Reise durch das Jenseits nicht verloren geht.

„Malen bedeutet einen Namen zu geben und der Name war die Garantie für das Fortdauern“ (John Berger) … es geht um Existieren auch über den physischen Tod hinaus. Existieren durch und mithilfe von Bildern.

Noch heute sind diese Mumienporträts sehr ergreifend: wir spüren den Hauch des Lebens derjenigen, die schon sehr lange nicht mehr da sind …

  • Bei diesen ersten Porträts ging es also mit Nichten darum, nur das Aussehen festzuhalten.
  • Das Leben als solches, das Leben von Aarun, Musa, Merita sollte über den Tod hinaus festgehalten werden. = und das funktioniert, denn diese Bilder rufen den Eindruck des Lebens auch nach 2000 Jahren wach!
  • Ein ähnliches Phänomen des zarten Pulsierens zeigt sich auch hier im Raum … Schwingung geht von den Bildern aus … sie schlagen Wellen in den Raum, welchen wir uns nur schwer entziehen können … Sie entwickeln eine Präsenz zwischen fragendem „Wer bin ich“ und beinahe bedrohlichem „wer, wer bin ich?“

Dem christlichen Mittelalter war bekanntlich die irdisch-fleischliche Existenz ein wenig suspekt. Die Goldgrundmalerei richtet den Blick auf das Jenseits. Die Darstellung des irdischen Menschen spielte eine äußerst untergeordnete Rolle. Porträt ist hier kein Thema.

Erst in der Renaissance erwachen mit der Widerentdeckung des Humanismus auch das Selbstbewusstsein und das Porträt aus dem mittelalterlichen Dornröschenschlaf. Mit neuem naturwissenschaftlichem Interesse beginnen Künstler die sichtbare Welt der Dinge aber auch ihre Mitmenschen und sich selbst zu erforschen.

Betrachten wir Porträts aus dieser Zeit, dann sehen wir wiederum nicht nur das äußere Aussehen, sondern stets geht es auch hier um etwas, hinter der Fassade: um den Charakter und um das Wesen des Dargestellten und vor allem um dessen Gottesebenbildlichkeit.

Paracelsus (Philosoph und Arzt um 1500 ) war der sicheren Annahme, dass die äußere Gestalt der Dinge immer als Ausdruck des inneren Wesens entstünde:

„Der Bildner der Natur ist so kunstreich, dass er nicht das Gemüt nach der Form schmiedet, sondern die Form nach dem Gemüt“

Künstler wie etwa Albrecht Dürer folgten dieser Fährte und versuchten in den Porträts, die sie malten sowohl naturgetreue Sachlichkeit zu erreichen, als auch jenen Bildner der Natur, die Kraft, die die Form erst gibt zu erfassen.

Dürer veröffentlichte vier Bücher mit Proportionsstudien zum menschlichen Körper. Die Konstruktionszeichnungen und Maßangaben erinnern an Entwürfe von Ingenieuren. …

Mit ähnlicher Präzision geht Tatjana Lee vor:

  • Diese feine Zeichnungsserie bewegt sich an der Grenze der Sichtbarkeit: welche Spuren kann man einfangen, wenn man sich an die Peripherie der Ausstrahlung begibt?
  • Was passiert zwischen Anwesenheit und Abwesenheit?
  • Sie fängt den Rest durch ihre außergewöhnliche Zeichentechnik ein und konfrontiert unsere Wahrnehmung mit diesen Fragen.
  • Betrachten wir die Malerei wird auch rasch klar: hier geht es nicht um Porträt im herkömmlichen Sinn:
  • Erforschung des Geschehens zwischen Antlitz und Antlitz.
  • Der Pinsel wird zum Seismograf, der fein und exakt die Schwingung untersucht zwischen dem, was das Gesicht ausstrahlt und dem, was die Empfindungsfähigkeit aufnimmt.
  • B. „Stillness“: wie ein sanftes Streicheln fährt der Pinsel über die geschlossenen Lider, tastet das Zentrum zwischen an der Nasenwurzel ab … setzt ein kräftiges Gelb an den Wangen und produziert ein Leuchten durch geschlossene Augen …
  • Wenn wir in ein Gesicht blicken können wir nicht anders, als die Muskelaktivität im Mikrobereich unseres Nervensystems zu imitieren. Als zögen wir eine Maske an, schlüpfen wir in das Mienenspiel unseres Gegenübers und bringen im gleichen Moment doch unser Selbstsein mit ein …
  • Ich denke, Tatjanas Bilder erforschen dieses komplexe Widerspiegelungsgeschehen.
  • Den naturwissenschaftlichen Blick der Medizinerin erweitert sie dabei durch das Schauen der Künstlerin, denn die Malerei schaltet sich mitsamt dem Eigensinn, den sie einzubringen vermag ein:

Das möchte ich kurz erklären:

Spätestens mit Beginn der Moderne befreiten sich Künstler vom Diktat der wirklichkeitsimitierenden Darstellung. Nun ging es nicht mehr darum, Wirklichkeit möglichst naturalistisch zu zeigen (ohnehin taucht die Fotografie am Horizont auf und übernimmt diese Aufgabe recht zuverlässig).

Vielmehr begann sich die Kunst viel direkter mit geistigen Realitäten zu beschäftigen. Der individuelle Eindruck etwa, begann, eine Hauptrolle zu spielen. Es ging zum Beispiel um die Erforschung der Psyche des anderen oder um die eigene Psyche und nicht selten schlicht auch um Selbstvergewisserung in Zeiten, die das Individuum zugunsten der grölenden oder Parolen skandierenden Masse einstampfen wollte.

Fernab von der plumpen Widergabe idealisierter Rollenklischees oder oberflächlicher Ästhetik versuchten und versuchen Künstler seit der Moderne, Unsichtbares sichtbar zu machen.

Den Blick hinter die Kulissen der äußeren Wahrnehmbarkeit treiben Künstler voran, indem sie Abstrahieren und Malweisen erfinden, die den Emotionen und Empfindungen beim Akt des Betrachtens mehr Raum lassen:

  • Ausdrucksfarbe = Farbe wird zum Träger von Emotionen
  • Sichtbare Pinselspur = hält die Geste fest, die das was gemeint ist einzufangen versucht B. Farbspuren, die über das Bild laufen … oder in impulsiver Vehemenz eine Augenbinde über die Augen legen …
  • Durch die Emanzipation des Malaktes wird das Malen zur Niederschrift des Künstlers und zwar zu einer Niederschrift der Geschichte, die der Maler mit seinem Motiv in dem Moment beginnt, wo er den Pinsel zur Hand nimmt.

Bei diesen Geschichten hier geht es eben nicht/oder nicht nur um die Sache/das Motiv, sondern um die Sichtweise/ das Erleben/ die Erfahrung die wir mit unserem Gegenüber haben. Da reicht die illusionistische (visuelle Realität nachahmende) Abbildung nicht aus:

  • „The next Room“: ein Mädchen an der Schwelle. Wir sehen das etwa hier bei diesen gestisch freien Passagen … Ornamentale Muster …
  • Invertierte Bilder: durch das Malen entstehen Leerstellen … wie Lücken im Kommunikationsprozess… oder Barrieren .. .Auslöschungen …

Abschließend möchte ich noch einmal auf die Sprache vor der Sprache zurückkommen.

Was bedeutet uns der Blick des Anderen? Anblicken und erblickt werden?

Vermutung: wir hätten keine Identität, wenn es nicht einen gäbe, der uns anblickt. Wir spiegeln uns im Anderen, stoßen uns zugleich ab, weil wir eben nicht identisch sind, und erfahren auf diesem Weg, wer wir sind.

Indem wir uns den Anderen zum Objekt machen (das geschieht oft, wenn wir von- oder übereinander sprechen), können wir nicht zur eigenen Identität finden. Da braucht es andere Formen der Beziehung.

Diese mutigen und zugleich vorsichtigen Versuche des Dialogs zwischen Selbst und Selbst, die wir hier in den Bildern erleben können, spiegeln für mich derartige Beziehungsformen.

Über den Prozess der Identitätssuche wiederum können wir zu freiheitlichen Wesen werden.Wenn ich nicht weiß, wer ich bin und was ich möchte, können meine Entscheidungen niemals wirklich frei sein.

Freiheit wurzelt also in unserem urmenschlichen Potenzial, uns gegenseitig zu sehen und uns permanent aneinander wach zu halten.

Davon berichten diese Bilder,

denn vor 3 Jahren beschloss Tatjana glücklicherweise, ihrem inneren Drang nachzugeben – etwas musste raus (…) – und Künstlerin zu werden. Seitdem nähert sie sich Pinselstrich für Pinselstrich der Unergründbarkeit ihres Gegenübers und leistet eine Identitätsarbeit die anstecken soll und darf!

In diesem Sinn:  „free your mind“ und viel Freude mit dieser Ausstellung!

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